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1. BEGEGNUNGEN
1.1 Vierjährig
Vierjährig bin ich. Das Garagentor geöffnet vor mir. Stehe da, eine lange Strecke von zu Hause. Heute weiss ich, keine 200 Meter. Gehe auf die Öffnung zu. Bücke mich blinzelnd, als würde ich unterm Tor hindurch gucken, so schwer und bedrohlich kommt es mir vor, obwohl es weit über mir gekippt in der Luft schwebt. Schaue in den tiefen Raum der Doppelgarage. Drinnen gelbe und weisse Lichter. Erinnert mich an Orte in Märchen, wenn Mutter vorliest. Hinter mir scheint die Sonne blendend auf den Asphalt. Meine Augen gewöhnen sich an Dinge und Schatten. Sehe einen Mann. Er ist riesig. Kniet auf einem Bein. Greift in eine Kiste neben sich. Nimmt einen glänzenden Stab hervor, wie ein Zauberer. Werde später verstehen, war ein Schraubenzieher. Er sieht mich, das kleine Mädchen. Ich spiele mit den Fingern vor dem Bauch. Lächle. Entdeckungsgierig meine Augen. Komme aus der Stille des Nachmittags daheim, Mutter irgendwie und irgendwo im Haus, Vater nie, sowieso.
Der Mann tut was an einem Motorrad. Es hat viele Motorräder, so dünkt mir. Eigentlich waren es nur drei. Tanks wie Ostereier. Und ein Auto, ganz gelb. Ohne Dach. Alles riecht nach warmem Öl, wie wenn Mutter in der Küche brät, aber anders, eindringlicher. Auch nach etwas Süsslichem duftet es. Werde bald lernen, Benzin. Von da an gehe ich hin, wann immer ich kann.
Nun, das erste Mal, verharre ich vor all den Sachen, die ich nicht kenne. Sie schimmern und funkeln. Mache schüchtern einige Schrittchen. Will eines der Eier berühren. Bedächtig steht der Mann auf, schaut mich an, während er näherkommt. Stellt die flache Hand nah an die Maschine, als wolle er sie spüren. Ich staune die Hand an. Er sagt: «Pass auf, ist heiss.» Er macht sich erneut ans Werk, schraubt an seinem Motorrad herum. Fragt, ohne aufzublicken, wie ich heisse. «Inina», murmle ich. Er spricht falsch nach: «Irina». Ich wehre mich beschämt, rufe nochmals meinen Namen. Alle meinen, ich hiesse Irina. Er nickt. Versteht. Sagt: «Inina.» Dann: «Konrad.»
Mein Blick schweift umher. Noch ein Ei! Ich möchte wieder anfassen. Nichts rührt sich bei ihm ausser den beschäftigten Fingern. Ich lange nach dem Ei. Violett und rot, die Farben ineinander. Tippe aufs Metall. Schiele hinüber zum Mann, der für mich von nun an immer «Onad» heissen wird. Er lässt mich machen. Ich renne hinaus, vor Freude, renne!
1.2 Timos Nische
«Es ist eine Periode der Umbrüche, in der wir leben. Die Herrscher der Welt bewegen sich allesamt in eine Richtung, weil sie nicht mehr wissen, wohin. Haben die Sicht verloren. Steuern ohne Rückgrat mit den Köpfen voran in den Abgrund. Eine Herde.»
Timo, Philosophiestudent, hielt die in Holz eingerahmten Zeilen in der Hand. Inina Gerber und Adriano Parente, die früheren Bewohner seines Hauses, hatten sie geschrieben als Finanzkrisen den Globus erschütterten, Plastikabfälle maritimes Leben zerstörten, Feuerwalzen Wald, Mensch und Tier einäscherten und Viren per Flugzeug die Welt überfielen.
Er setzte sich in seinen abgenutzten, zum Garten gerichteten Ledersessel auf der Veranda, legte die eingerahmten Zeilen neben sich auf den Terracottaboden und überlegte, ob er die Geschichte des Liebespaares niederschreiben sollte. Während der Renovation hatte er in einem Wandversteck Erinnerungsgegenstände, Datenträger, viel Papier und Ininas Tagebuch gefunden. Das Paar hatte sich am 8. Juli 2000 kennengelernt, einem Samstag, zu einer Zeit, als Google drei Jahre alt war, weder Smartphone, Multi-Touch-Screen noch Facebook existierten, es auch YouTube, WhatsApp und Instagram nicht gab. Künstliche Intelligenz für jedermann lag in weiter Ferne.
Timo lehnte sich zurück. Die Sonne stand hoch und beschien den Garten. Er trug Shorts, Flipflops und ein Hemd aus dünnem Stoff. Daumen und Zeigefinger fuhren über den kurz geschnittenen, nur die untere Partie des Kinns bedeckenden Bart. Seine Brust ging unregelmässig auf und ab. Das rötlich schimmernde Haar, Kupferdrähten gleich und abstehend, ähnelte einer Spechtfrisur, nach vorne und hinten ein ausladender Bausch. Ein Ventilator trocknete den Schweiss auf seiner Stirn. Er langte nach dem hartgebundenen Tagebuch. Schlug die erste Seite auf. Seine Lippen bewegten sich: «Vierjährig bin ich. Das Garagentor, geöffnet, vor mir. Stehe da, eine lange Strecke von zu Hause ...» Er kannte die Zeilen auswendig. Entschied, Ininas und Adrianos Geschichte zu erzählen.
S. 91
Rom: Der Abend heiss und noch lange hell, streute ein dunkelblau bekittelter Mann in der Seitenstrasse beim Hotel aus einer grossen Blechdose weisses Pulver an Bäume, Mauern, Gitter und Pfosten, um Uringeruch zu beseitigen. Im Jubiläumsjahr 2000, man feierte Christus, bemühte sich die Stadtverwaltung, nicht nur ein gutes Bild, sondern auch eine vorteilhafte olfaktorische Spur zu hinterlassen.
Eines Streikes wegen fuhren an jenem Abend fast keine Busse. Aus den Zeitungen konnte man entnehmen, welche Strecken wann befahren würden. Adriano und Inina entschieden, doch einen Spaziergang zu machen. Die Beine dankten ihnen nach Autofahrt und Verrenkungen beim Liebemachen. Der Hunger trieb sie in eine Trattoria zu Tomaten, Mozzarella, Modena-Essig, Olivenöl, Basilikum, Pasta und Knoblauch-Pesto – sie brauchten sich heute ja nicht mehr zu küssen –, und zu gegrillten Scaloppine sowie geschäumtem Eigelb, warm eingerührt in Eiweiss, Zucker und Marsala, Zabaione genannt. Die gemeinsame Aura reichte in den ganzen Abend hinein, bis sie sich hundemüde und früh, man verstehts, schlafen legten.
Als das Paar am nächsten Tag im dichten Strassenverkehr auseinander geriet, beispielsweise wenn Inina eine mehrspurige Strasse überquerte und er zurückblieb oder umgekehrt, riefen sie sich zu, um sich dabei ganz fröhlich von weitem nicht zu verstehen. Und weil alles so irreal schön war, verschwand bisweilen sogar Rom, nur Adrenalin und Liebe zirkulierten im Kreislauf der Dinge. Gibt es nach menschlichem Ermessen Grösseres? Nichts ausser vielleicht Gott – sie hatten am Morgen dem Vatikan einen Augenschein gewidmet – oder die Götter, in deren Haus sie am Nachmittag traten: das Pantheon.
Im Verliebtheitswahn blind umschlungen rempelten sie vor besagtem Götterhaus einen Mann an, der in der Sonne die Architektur des Gebäudes studierte. Auf den schicksalshaften Punkt schnitten sich ihre Wege vor dem ehrwürdigen, in seiner äusseren Gestalt eigenwillig hässlichen Bauwerk. Lorenzo Torri, stellte er sich vor, ein mittelgrosser, stilvoll gekleideter und gut aussehender Siebzigjähriger mit nach hinten gekämmtem, grauem Haar. Ob sie das erste Mal in Rom seien, fragte er etwas gestelzt, als wolle er betonen, Nobles sei ihm in die Wiege gelegt worden. Inina nickte wortlos, fühlte sich gestört. Adriano antwortete auf Italienisch, er kenne die Stadt von einem früheren Besuch. Torri fragte, was sie denn schon gesehen hätten, er sei oft in Rom, habe hier eine Wohnung, besitze gleichwohl ein Häuschen auf der Insel Stromboli. Etliche Falten im gebräunten Gesicht, einen goldenen Ring an der Hand, die Uhrkette massiv, machte Torri auf Adriano den Eindruck eines gönnerhaften Patriziers. Wo sie herkämen? Ah, aus der Schweiz. Und weil Inina verlauten liess, sie sei zum ersten Mal in Rom, und freue sich auf das Pantheon von Innen, sprach Torri plötzlich in gebrochenem Deutsch. Sie schlenderten zum Eingang des Tempels.
Torri dozierte grosszügig: «Pantheon, das Haus aller Götter.» Inina fühlte sich in ihrem Dasein weiterhin gestört. Schien ihr, sie habe einen Lehrer vor sich. Adriano, Hände hinterm Rücken, vermerkte kleinlaut, der Fakt sei ihm bekannt. Inina versuchte herauszufinden, woher ihre aufdringliche Skepsis kam, warum der Bauch Unangenehmes meldete.
Innen überwältigte das Gebäude mit Perfektion und Schönheit. Torri beeilte sich auszusprechen, derweil sie beim Eingang stehenblieben und er in einer Mixtur aus viel Italienisch und wenig Deutsch referierte, wie eindrücklich der Raum mit dem wüsten Äusseren kontrastiere und ergänzte, die Kuppel (la cupola) weise von aussen gesehen sieben Ringe auf, ob sie die gesehen hätten? Adriano bejahte, fühlte sich jeglicher Erklärungsgewalt entzogen und schwieg anständig. Die Ringe symbolisierten die sieben Planetengötter, führte Lorenzo aus. Unterdessen hatte er freundschaftlich das Du angeboten und den beiden ein zweites Mal die Hand gedrückt. Inina konnte ihn trotz Du und allen Göttern nicht ins Herz schliessen, obwohl sie es versuchte. Er verursachte, wie sie nun deutlich wahrnahm, ein laues Schweregefühl im Bauch.
Die geräumige Kuppel schien zu schweben. Den Ausführungen Torris entsprechend bestand sie bis zur kreisrunden Öffnung ganz oben aus Bimsstein. Ein Stein leicht genug, um auf Wasser zu schwimmen. Die Eigenschaft hätten die Römer genutzt, um das Gewicht des dreiundvierzig Meter breiten Gewölbes auffangen zu können. Adriano mischte sich ein, als Lorenzo eine Pause einlegte. Inina zugewandt erklärte er, die Kuppel sei damals blau gestrichen gewesen, in den unzähligen, viereckigen Vertiefungen habe man bei gewissen Anlässen goldene Sterne eingebracht. Lorenzo übernahm und sagte, man könne sich eine gigantische Kugel vorstellen, die, in der Mitte des Tempels auf den Boden gestellt, formgenau ins Pantheon passe und die Kuppel ausfülle. Als die Männer sich diskutierend einander zuwandten, schlich Inina von dannen, überliess ihnen das Reden. Betrachtete die Muster auf dem Steinboden, ging dem Rand des Raums entlang, bewunderte Pfeiler, Ornamente und Statuen. Lief zur Mitte. Sie wollte keine Kuppel-Gespräche. Das Gefühl im Bauch blieb. Doch entschied sie vorläufig, die Suche nach dem Grund aufzugeben.
Die Alten mussten für ein Spektakel gesorgt haben hier, dachte sie. Bestaunte die grosse Öffnung zum Himmel. Stellte sich die Menschen vor, wenn die Nacht einbrach und Feierlichkeiten liefen, wie um sie eine geisterhafte Menge stünde und schwatzte, in Erwartung eines tiefsinnigen Rituals, an Gesang und Andacht im Lichte von Fackeln. Wie Echos nahm Inina unverständliche Spachfetzen aus dem imaginären Altertum wahr, wisperte verträumt zu sich selbst: «Wie mitten im Kosmos muss es gewesen sein» – fühlte das Blau der Kuppel, die goldenen Sterne in den Vertiefungen. Aber jetzt war Tag. Sie brauchte nicht fragen, was die Öffnung darstellte, durch die sie mit ihrem Auto hätte hindurchfliegen können. Das eintretende Licht schickte die Strahlen schräg an die Wand und auf diverse Verzierungen. Die Sonne und ihr Abbild, frohlockte sie. Empfand Ehrfurcht, wähnte sich nun beinah reell inmitten feiernder Gäste zweitausend Jahre zurück. Überlegte, wie die Menschen von damals den Himmel gedacht haben mochten. Dass jene Menschen nicht wussten, wie später eine Touristin aus Linnebrücke hier stehen und an sie denken würde.
Und sie nahm die virtuelle, vom Boden in die Kuppel eingegossene Kugel geistig in sich auf.
Das Pantheon als Bauch.
Die Kugel würde, Inina stellte sie sich aus Marmor vor, exakt da stehen, wo sie selbst stand. Sie hob die Arme und empfing die Götter des Universums.
Adriano und Lorenzo hatten sich verschoben. Inina sah, wie die Köpfe sich jeweils in dieselbe Richtung wandten. Plötzlich überkam sie das erhabene Gefühl, als sie vierjährig das erste Mal an Onads Garagentor gestanden hatte. Die Erinnerung an den Geruch von Benzin, die Tanks der Motorräder, die ihr wie Ostereier vorgekommen waren, all die wunderbaren Farben. Onad mit irgendwas beschäftigt. Wie konzentriert er stets gewesen war. Inina fühlte sich wohl in ihrer Haut. Erkannte bei den beiden Herren was Ähnliches wie dazumal, was typisch Männliches, doch in veränderter, unruhiger Art. Lorenzo fuchtelte mit einer Hand am Ohr vorbei nach hinten, redete womöglich von Vergangenem oder warf feinstofflich irgendwas hinter sich. Adriano nickte und versuchte mit den Armen ins Gespräch zu kommen. In diesem merkwürdigen Flash kamen ihr die beiden Männer auf einmal unproblematisch vor, eigentlich einfach zu verstehen. Warum die Aufregung? Sie hüpfte fröhlich auf die beiden zu. Lorenzo zeigte sich begeistert von ihrer Schönheit. Sie schlang die Arme um Adrianos Hals und hob die Füsse vom Boden. «Gehen wir?», flüsterte sie ihm ins Ohr.
Adriano gefiels, vor Lorenzo Inina so an sich zu haben. Sah die Szene von aussen wie das Bild einer Werbung für Partner-Kreditkarte oder Diamantbrosche. Mann stark und sicher. Frau in kurzem, straffem Rock schleudert sich ihm entgegen, wirft die Arme um ihn, Stöckelschuhe schwingen durch die Luft, das Nylon an den Beinen schimmert, er dreht sie federleicht. In Wahrheit hing Ininas Rock übers Knie, die Beine waren strumpflos, und sie trug gemütliche Schuhe aus dünnem Leder ohne Absatz. Adriano spürte ihren Körper an seinem, das Gewicht um Nacken und Schultern, seine verschränkten Hände auf ihrem Rücken, angespannte Muskeln, die sie hielten. Wie schön die Jugend doch sei, kommentierte Lorenzo und man schlenderte zum Ausgang. Auf dem Vorplatz bat er inbrünstig, beide möchten sich am übernächsten Abend um neun zu einem Nachtessen anschliessen, er habe ein befreundetes Ehepaar eingeladen, das sich ebenso freuen würde wie er. Ohne mehr als ein Nicken zu erwarten, gab Lorenzo die Adresse des Restaurants, seine Telefonnummer und verabschiedete sich.
Adriano suchte vollblasig eine öffentliche Toilette auf. «Komme sofort.» Pinkelte und hirnte. Ihn interessierten zentrale Orte, aus denen gesteuert wurde, und zentripetale Wege, die bekanntlich alle nach Rom führten. Sein Organ, leicht gehalten, noch klebrig vom morgendlichen Liebesspiel. Inina hatte ihn angemacht ohne zu sparen. Wie junge Katzen waren sie gewesen. Beim Pinkeln sogar brachte sie ihm das Lächeln ins Gesicht. Er schüttelte den letzten Tropfen ab. Er genoss sich erklärende Abgehobenheiten. Im Zentralnervensystem der Antike gelandet, bewunderte er Götter und Cäsaren, hielt noch immer seinen Zentralapparat in den Fingern. Inina war die Ankerstätte, Bodenhaftung, sein Bezug.
«Wo hast du so lange gesteckt?», fragte sie zufrieden.
«Lange?», meinte er erstaunt.
Sie nahm ihn am Arm, rieb den Kopf an seiner Schulter und sagte leise: «Ich fühle dich jetzt noch in mir von heute Morgen!» Sie überschwemmten sich mit Glückslauten und Glücksgesichtern in der glücklichsten Stadt der Welt. Es gluckste und miaute, Albernheiten segneten den Weg an Schaufenstern und Historischem vorbei, in Stadtlärm eingepackt, sich auf alle erdenklichen Arten berührend.
Inina sagte plötzlich, schwang froh Arm und Hand, an der er sie hielt, sie wolle nicht an den Abend, Lorenzo sei komisch. Adriano, verdutzt, stammelte: «Aber …» In dem Moment fiel ihr die Lösung für ihre Skepsis ein. Mit einem tiefen Atemzug verkündete sie: «Er verachtet Frauen.»
Adriano fiel aus allen Wolken, sortierte während Millisekunden die auftretenden Verwirrungen. Gelangte zur bloss innerlich gedachten Fragestellung, ob Inina tatsächlich den Alten, welcher ihm die vielen Fakten übermittelt habe, Mastro Lorenzo, diesen netten Herrn meinte, der losgelöst von irdischem Zwist sein Wissen darbot, ihn wie ein Sohn herzlich in die Aufklärungsmühlen differenzierter Betrachtungsweisen einbezogen habe. Er sagte: «Spinnst du?»
Sie wisse, wovon sie spreche. Beweis ihres Empfindens, so was spüre sie.
Was sie Unglaubliches herausfinde, meinte Adriano zaudernd, der Lorenzo sei doch interessant, und wie sie das wissen wolle, sie sei ja grösstenteils nicht dabei gewesen.
«Oh Götter!», rief Inina. Lorenzo war ihr zu unwichtig, als dass sich Streit lohnte. Sie wünschte, sich besser verständlich machen zu können. Dieses überflüssige Getue, die unnötige Faselei von männlichen Objekten waren ihr lästig.
Adriano meinte höflich, er habe nichts entdeckt von alledem.
Sie erwiderte, er verstehe sie nicht.
Seien unlogische Rückschlüsse, ihre, aber egal, wer kenne ihn schon, diesen gütigen Onkel, den vermeintlichen Frauenverächter.
Sie küssten sich.
Sie übertreibe eben, beschwichtigte sie. Und schon bereute sie den Satz, denn sie wollte zu ihrer Sicht stehen. Doch war sie plötzlich, wie aus heiterem Himmel, angetan, die Einladung Lorenzos anzunehmen. Der Abend mit ihm und seinen Gästen kam ihr umgehend lohnenswert vor. Adriano schüttelte erleichtert den Kopf. Sie lachte: «Ist ja bloss ein überheblicher Macho.»
S. 453
Die Frage, wie er Beruf und Intimes zusammenbringen könnte, beantwortete Adriano mit der Erkenntnis, keine Antwort mehr finden zu wollen. Familie ist schön. Beruf ist gut. Intimes ist Geborgenheit. Geborgenheit explodiert aber auch. Tat es. Um wiederholte Eskalationen zu vermeiden, versuchte er inbrünstig, den täglich zermürbenden Wahnsinn zu bewältigen, will heissen, im Akkord Emotionen dreier Personen, seiner inklusive, aneinander vorbei zu vereinbaren – indem er zur Überzeugung gelangte, nur meditieren helfe, um letztendlich in Güte handeln zu können. So sass er im Schneidersitz, wenn Anja erhobenen Armes am Herdplattenschalter spielte, Inina ihn drängte, sich zu kümmern. Fand, Frauen sprängen besser um mit emotionalen Wechselbädern, hätten Übung mit Ansprüchen von Kleinstkindern und Grosseltern, versetzten sich in Persönlichkeiten hinein, ohne zu leiden. Notwendige Fähigkeiten, um mit eben diesen Anforderungen fertigzuwerden. Ein Mann bleibe auf Bedarfs-Distanz.
«Funktioniert bei Kindern nicht», entgegnete Inina trocken.
Das liege daran, dass diese eben einfach da seien, weshalb Männer schnell an multiemotionalem Überfluss zugrunde gehen könnten.
Inina empfahl, Dinge zu erledigen statt herumzugrübeln.
«Männer suchen Distanz, Entklebung und Nirvana», dozierte er in besagter Sitzposition. Da tauche einem sogar die Frage auf, ob das Verhältnis zwischen Sprache und Bewusstsein ebenso sprachlich definiert werden könne, jetzt wo Anja Worte zu bilden beginne.
Jeder Unsinn bestätige sich selbst durch unnütze Argumente, reklamierte sie.
Ja, schloss er sich an, Wortgebilde würden sich vermehren, statt weniger zu werden, wenn man die Ruhe nicht fände. Bis die Menge so gross sei, dass nur Gedankenschlaufen, Aggressivität und Burn-out übrigblieben, er deshalb präventiv in sich schaue und dabei sogar Fragen entdecke.
Sie seufzte laut und abweisend.
In jeder Frau stecke eine Frau, und das sei nervig, meinte er anderntags. Sein Denksturm war auf ein einfacheres Erklärungsmodell gerutscht.
Eines Mittags nach dem Essen, schneider-sitzend wieder, mit geschlossenen Augen, sagte er nichts mehr, überlegte nur still vor sich hin, ob der Wort-Teil des menschlichen Erlebens, der, als Analogie gedacht, jenem über dem Meeresspiegel stehendem Teil eines Eisbergs entspricht, den Unterwasserteil, diesen versteckten, obskuren, stabilisieren könne. Ob Worte Vermaterialisierung in abstrakter Form von allem Gegebenen seien oder bloss Werkzeug für Weniges? Waren Wortreiche zur Existenzbedeutung Gesammeltes? Reloadet man sich selbst mental – immerwährend?
Inina legte ihm ans Herz, es gebe Wäsche zum Machen, die Küche stinke, saubere Windeln seien keine mehr da, die Steuererklärung müsse.
Adriano hatte jede Windelmarke durchprobiert. Es gab eine beste. Jene, die keine Kacke am Beinchen durchliess, weil die Gummidinger dichthielten; die auch bei viel Nässe nicht in ein mühsames vom Hinterchen wegzuputzendes vollgesaugtes Klümpchenmaterial verwandelt wurde; deren seitliche Kleber allem standhielten, sich nie von selbst lösten.
Er ging einkaufen.
Einmal fand er philosophisch, die Kleine sei auf die Welt gekommen, weil mit dem Menschen das Universum nach sich selbst frage. Anja lächelte ihn an.
Inina hörte kopfschüttelnd, wie sich Adrianos eigentümliche Wechselwirkung mit der Tochter beim Wickeln entwickelte. Er fand, die Kleine verstehe sowieso nichts, allein der Tonfall beglücke. Tatsächlich schaute sie ihn wieder und wieder an, als er betont lippenbewegend ausformulierte, Algebra sei die totale Freiheit in enger Definiertheit, wo der Buchstabe Klein-a (Anja bewegte die Arme, als suche sie gezielt nach etwas in der Luft) exklusiv nur «a» sein könne und (er hob den Zeigefinger) gleichzeitig alles. Als er heftig nickend, immer noch Anja zugewandt, meinte, die Steuererklärung sei weltlich und könne warten, anschliessend die gebrauchten Windeln in den hermetisch abdichtbaren Kübel legte und Anstalten machte, erschöpft auf dem Sofa in den Scheidersitz zu plumpsen, widersprach Inina beinah mit Lust und schrägem Mund, Meditationsziele schafften bloss zuckersüsse Lockvögelchen für Männer, damit sie was täten mit sich. Adriano zog Anja dann doch noch das gestreifte Kleidchen über.
Inina machte vorwärts, ging zur Arbeit, vernahm am Abend, er habe aus Versehen sein Handy in der Waschmaschine mitgewaschen. Diesmal lachte sie, er wandere halt meditativ als nicht definierte Hülse umher. Mahnte aber, sie wolle kein Geplapper, sondern einen Mann, der Haushalt, Kinder und Beruf unter einen Hut bringe. Man müsse die Zügel in den Händen halten können. Auch mit Kindern im Plural. Sie wolle ein zweites und gebe zu, die Aussage sei prämeditiert und für ihn ein bisschen plötzlich.
Adriano, überrumpelt, antwortete, man sollte «doch eher vorläufig ‹nichts wollen›», schon gar kein zweites Kind.
Inina fasste ihm unsittlich in die Hose, wohl wissend, dass der Eisprung in weiter Ferne lag. Während er zu wahrer Grösse schwoll, flüsterte sie so laut sie konnte: «Sag etwas Ernsthaftes, ja? Du kannst das.»
Adriano japste: «Ich stehe zu dir.»
Für mehr Erotik als dem vorübergehenden Flämmchen langten weder Zeit noch Raum.
Leider drückte Adrianos vermischte Innenwelt zunehmend aufs Gemüt. Erneut musste er sich im Urzustand der Entkräftung erkennen. Dachte mit Wehmut an Diogenes, der auf alles Weltliche verzichtete, nackt am Ufer eines Flusses einen Hund Wasser trinken sah und entschied, die Trinkschale, das einzige, was er noch besass, fortzuwerfen. Welch befreiende Perspektive. Wünsche und Pflichten verbrauchten. Allzu vieles musste verhandelt werden. Daran dachte er vor dem Aufstehen und wollte weiterschlafen. Setzte sich hin, fühlte zwei Sekunden Freiheit von Pflichten, erreichte schnell das nicht allzu göttliche Alleinesein ohne Perspektiven, fiel leer ins übliche Loch voller psychischen Gerümpels. Er, Familienname Parente, Geburtsjahr, wenn er richtig erinnerte, circa 1975, Partner einer wunderbaren Frau, glücklicher Vater, wohnhaft hier, «musste» nur noch.
Das italienische «dolce far niente» kam nicht wieder. Adriano sank von der Sitzposition ins endgültige Darniederliegen. Das half paradoxerweise. Nicht nur, weil Auferstehen als einzige übrige Richtung blieb. Nein: Er musste.
Denn es war Inina, die zusammenbrach.
Drei Wochen vor Eröffnung ihres Ladens, der Vollendung ihres Lebensglückes, stand sie minutenlang am gleichen Fleck unter der montierten Mondsichel. Fühlte sich verlassen. Ideen, Kredite, imaginierte Palmen und Orchideen wuchsen ihr über den Kopf. Sie konnte den Ort nicht mehr riechen. Einen inspirierenden Treffpunkt, mehr als Laden, hatte sie sich vorgestellt, liebestolle Menschen, die in schimmernden Betten erotische Eldorados erleben würden dank bei ihr eingekaufter sinnlicher Ware. Das Ganze Schwächegetöse vermengte sich nun grau mit vorausliegenden Budgetüberschreitungen. Scherbenstücke doppelter Buchhaltung griffen nach ihr, der Verletzlichen, schüchtern Gewordenen. Nichts machte mehr Sinn. Sie war im Begriff, ihre Existenz kaputt zu gestalten.
Adriano war zwar ausgebrannt, mit derart vielen Töchtern – eine zwar immer noch, die aber ständig redete, als wärens viele. Hatte unzählige Sprach- und etwa fünfzig visuelle Zentren in seinem Hirn, die vollgestopft mit Spiegelneuronen Stimmlage-Erkennung betrieben und Gesichter zum Tanzen brachten. Ein hochgebrühtes, altbabylonisches Phänomen innerethnischer Vielfalt.
Inina hatte ihn zum blossen Faktor degradiert, alles Entscheidende übernommen, meinte er zu erkennen. Doch sah er, wie aschefahl sie geworden war. So auferstand er ohne Begründung, konzentriert und einigermassen kräftig.
Ihr wurde schlecht in Bauch und Hals. Sie kotzte in die nächste leere Kiste im Lagerkeller. Nachts fiel sie ins Reich der Überlastungsträume, bei denen man, erneut aufgewacht, vor Schlaffheit nicht wieder einschlafen kann, es nach geraumem Hinhaltestress doch tut, nur um nächste Schübe zerstückelnder Seelenquälerei einfangen zu dürfen.
Adriano nahm Anja vermehrt mit zu seinen Eltern. Inina weinte zu Hause, statt ihrer Firma nachzugehen. Sie hatte Anja sträflich vernachlässigt. Jammer und nie wiedergutzumachende Schuld. Eine Rabenmutter war sie geworden. Zweifellos, tat weh. Ohne Erfolg zu leben war hart. Schlechte Mutter und jetzt noch sterbender Laden. Adriano schien sie nicht mal zu vermissen, gewiss, obwohl er sie, wohl proforma, öfters umarmte. Anja schlief nun bei seiner Familie. Seine Familie? Sie, Inina, war Familie – so hatte sie stets geglaubt. Sie kroch unter die Decke.
Der Morgen graute. Man meldete, Anja sei krank. Harmlos. Inina drehte durch. Anja litt wegen ihr. Inina schrie. Telefonierte mit Rosa und weinte. Adriano hielt Inina in den Armen fest, bis sie sich erschöpft etwas beruhigte. Im Bett dann ging die Spirale nach unten. Sie sah Anja sterben. Adriano redete ihr zu, sie spinne völlig, Anja habe bloss Durchfall.
...
(S. 453)
... Junge Frauen werden in jenen Jahren medial bewundert. Laura Dekkert, die nicht anders kann, als frei sein zu wollen, segelt alleine um den Erdball. Anja Blacha gelangt alleine zum Südpol. Omnipräsent tritt Greta Thunberg begrüsst, ignoriert oder verteufelt an Plätzen, Konferenzen, in Wirtschaftskreisen, beim Papst, auf dem Meer, an der UNO auf. Ihre Reden vertreten das Weiterlebenwollen auf dem Planeten. Schülerinnen und Schüler fordern weltweit die Rettung des Klimas.
Das globalwirkende politische Betriebssystem sinkt allmählich ins Chaos. Sich über andere zu empören, um selbst aufgerichtet zu bleiben, wird massentauglich und mit astronomischem Brennglas durch die sozialen Medien amplifiziert.
«Hier», Inina schaute auf einen der ausgeschnittenen Zeitungsartikel: «Das Fledermäusevirus schliesst Geschäfte, Symposien und Schulen.» Sie wandte sich Adriano zu: «Zuhra hat mir aus der Stadt vom Lockdown erzählt, von fröhlichem Kindergeschrei tagsüber in den Wohnquartieren, weil die Kinder zu Hause bleiben müssen statt in die Schule zu gehen. Nachts sehe es aus wie in einem Adventskalender mit offenen Türchen, unzählig die erhellten Fenster an den Gebäuden, weil so viele Menschen abends zu Hause bleiben.»
Über Corona sprossen neue Wörter, «überzoomt, Fensterbesuch, Coronafrisur, Geistergastronomie, Jo-Jo-Shutdown, Balkon-Klatschen, Sex-Kauf-Verbot, Virenschleuder». Selbe Artikel rückten im Sommer vor der zweiten Pandemiewelle auf hintere Seiten, verschwanden beinah unter dem Begriff Sonstiges.
Alessandro Manzonis um 1860 geschriebener Roman «I Promessi Sposi» vor sich, Textstellen mit Leuchtstift markiert, verdichtete Adriano die gelesenen Informationen, während er im Buch blätterte: «Ich zähle auf statt lange Reden zu halten. Pestepidemie 1630. In Mailand kursieren Geschichten. Sie geben vermeintliche Ursachen der Seuche wider. Beispiel: Auf dem Domplatz fährt eine Kutsche vor, Sechsergespann. Unter den Insassen ein Mann mit düsterem und feurigem Gesicht, brennenden Augen und zu Berge stehenden Haaren, Lippen in drohender Gebärde. Ein zufällig vorbeigehender beliebiger Typ wird vom Kutscher zum Einsteigen gebeten. Abzulehnen getraut er sich nicht. Die Kutsche fährt eine Weile. Am Ziel betritt der Beliebige ein Gebäude, findet Behagen und Schrecken, Wüste und Gärten, Hölen und Gewölbe, gespenstisch ratsitzende Gremien. Aus Kisten voller Geld darf er soviel mitnehmen, wie er mag. Bedingung: Den ‹unguento›, die ansteckende Salbe in einer Schale mitzunehmen und stadtweit zu Verteilen. Er lehnt ab. Sieht sich danach unvermittelt wieder auf dem Domplatz. Sogar ein Bischof in Deutschland verlangt tatsächlich Klärung, ob die Geschichte wahr oder erfunden sei.»
Adriano, wie es Italiener so tun, rührte auf Brustkastenhöhe die locker gehaltene rechte Hand im Kreise und fuhr fort: «Gebildete Leute meinen zu wissen, zwei innerhalb zweier Jahre fallende Kometen seien Ursache für Gifte und Pulver. Manzoni schreibt, diese Gebildeten nähmen von den Ungebildeten was ihnen in der Kram passe, während die Ungebildeten sich auf das stützten, was sie von den Gebildeten verstünden oder wie sie es zu verstehen geliebten.» Und Adriano meinte dazu: «Begründungen werden in einer enthobenen Fantasie platziert. So abgekapselt, stehen sie für Diskussionen nicht mehr zur Verfügung.» Sein Blick blieb wie hypnotisiert auf den Buchseiten haften. «Die Corona-Epidemie wird heute von Bill Gates und seinen Getreuen gesteuert.»
Er und Inina atmeten genüsslich auf, steckten die Häufchen zugeschnittener Zeitungsartikel in Mäppchen. Adriano schloss das Buch. Sie gaben sich die Hand. Blickten zufrieden in die Weite.
Schlange und Adler (S. 386)
... 2600 v. Chr. sammelte man Lebensregeln, Hymnen, Sprichwörter und Beschimpfungen, alle anonym. Bald aber tauchte eine der ersten Geschichten der Menschheit auf: die vom Adler und der Schlange.
Auf der Terrasse der Wirtschaft «Zur Laube» liessen Adriano und Inina löffelchenweise Wodka-Sorbet auf der Zunge zergehen. Sassen auf Lounge-Sitzen aus Korbgeflecht. Blickten über den glitzernden Zürichsee ins hügelige Land. Ein grosser Sonnenschirm gab Schatten. Hundert Kilometer entfernt der gut sichtbare Alpenstreifen.
Laptop vor sich und jeder seinen Teil vorbereitet, erzählten und diskutierten sie über Schlange und Adler, über den Etana-Mythos.
Inina definierte: «Bruchstücke davon aus verschiedenen Zeiten und Kulturen sind mit Lücken zusammengefügt worden. Und wir wollen Weibliches und Männliches in Interaktion sehen.»
So fuhr sie fort: «Schlange und Adler steigen auf einen Berg, um vor dem höchsten aller Götter, Schambach, ihren Lebensbund einzugehen. Sie nehmen schwörend die Botschaft entgegen, bei Missachtung ihrer Treue bestraft zu werden – ich lese vor: ‹Wer die Grenzen des Schambach übertritt, den möge dieser böse mit der Hand eines Schlagenden schlagen. Wer die Grenzen des Schambach übertritt, der möge ausgerottet werden.› Der Raubvogel aber bricht das Treueversprechen, indem er die Eier der Schlange frisst. Eier oder Kinder, je nach Übersetzung. Die Schlange will Rache, versteckt sich in einem Stierkadaver und attackiert den Vogel, als er die Innereien fressen will. Sie wirft ihn, der Federn beraubt, in eine Grube. Er soll verhungern. Puh …», Inina stoppte kurz, griff sich in die Haare, «… Der Adler ersucht Hilfe beim selben Gott, der sie getraut hat, obgleich dieser der Schlange den Rat zur Tötung gab. Also Interessenkonflikte kennt der keine. Letztlich schickt der Gott doch einen Menschen, Etana, dem Adler zu Hilfe, und sagt: ‹Du bist böse, hast mein Gemüt gekränkt. Du hast dich mit gottlosem Tun, hast mit Unheil dich befasst. Du wirst sterben. Ich will nichts mit dir zu tun haben. Wohlan, der Mensch, den ich dir senden werde, der mag dir helfen!›»
Adriano blickte konzentriert und übernahm: «Etana verlangt vom Adler als Gegenleistung fürs Wiederbeleben, in den Himmel getragen zu werden, will bei der Grossen Göttin das Lebenskraut holen, um seiner unfruchtbaren Frau zu Kindern zu verhelfen. Etana sagt zum Adler …», Adriano suchte mit der Maus, «… Mein Freund, zeige mir das Kraut des Gebärens. Nimm meine Last von mir und schaffe mir einen Namen.»
Inina zog ihren Laptop vom kniehohen Tischchen auf den Schoss: «Etana heilt den Adler mittels guter Nahrung – der genaue Vorgang ist den Überlieferungen nicht zu entnehmen. Der Vogel verlässt die Grube nach acht Monden, mit Kräften gleich einem brüllenden Löwen – steht hier genau so.»
Sie bestellten Paprika-Chips und Mineral. Fanden seltsam, dass sich Etana am Bauch des Adlers festhielt, statt auf dessen Rücken getragen zu werden.
Inina fuhr fort: «Der Adler sagt zu Etana: ‹Mein Freund, ich will dich tragen zum Himmel Schamaschs, auf meine Brust lege deine Brust, auf die Schwungfedern meiner Flügel lege deine Hände› – und fragt wiederholt, ob er weiter hinauffliegen dürfe. Etana bejaht. Drei Momente werden beschrieben bis zum Gott, drei weitere bis zu Ischtar, der Göttin, ich lese: ‹Als der Adler Etana den ersten Abschnitt emporgetragen hat, sagt er: Schau, mein Freund, das Land, wie es beschaffen ist. Betrachte das Meer, inspiziere seine Ufer. Das Land ist wie ein Berg, das Meer ist geworden zu einem Gewässer. Als der Adler Etana den zweiten Abschnitt emporgetragen hat, sagt er: Schau, mein Freund, das Land, wie es beschaffen ist. Das Land ist nur noch ein Hügel. Als er ihn den dritten Abschnitt emporgetragen hat, ist das Meer zum Feldbewässerungsgraben eines Gärtners geworden. Als sie hinaufsteigen zum Tore Schamaschs, werfen sie sich demütig nieder. Doch fürs Wunderkraut müssen sie höher fliegen, bis zum Himmel der Ischtar, der Muttergöttin. Der Adler sagt zu Etana: Ich will dich tragen zum Himmel der Ischtar›, fertig Zitat.»
Inina machte eine Pause, blickte auf den See, las weiter: «Einen Abschnitt höher ist das Land nur noch eine Hütte, und das weite Meer ist so wie die Wasserstelle einer Weide. Noch höher sagt der Adler: Das Land ist geworden zu einem Kuchen, und das weite Meer ist so gross wie ein Trog. Als der Adler Etana den letzten Abschnitt hinaufgetragen hat, sagt er: Schau, mein Freund, das Land, wie es beschaffen ist. Etana bekommt es aber mit der Angst zu tun, als Land und Meer knapp sichtbar sind, zu entschwinden drohen. Sagt: Ich schau auf das Land, ich sehe es nicht, und am Anblick des weiten Meeres sättigen sich meine Augen nicht. Mein Freund, mache halt, dass ich zur Erde zurückkehre!»
Inina seufzte ergeben und meinte, die Hand in der Luft: «So kommt es nicht zur Begegnung mit Ischtar, alias Inana. In andern Texten wird diese als strahlendste unter allen Göttinnen ‹Sternen-Ischtar› genannt. In Mythen gelobt mit Sätzen wie ‹Die Helle deiner leuchtenden Fackel entfachte sich mitten am Himmel; das Volk soll Dich anstaunen, wie dir unter den Göttern keiner nahe kommt› — noch steht sie über allem.»
Sie stellte den Laptop auf das Tischchen zurück, sagte «du bist dran».
Adriano klickte umher: «Etanas Fall wird in drei Phasen festgehalten. Wie er landet wissen wir nicht. Der Schluss des Mythos ist verloren. Wir dürfen annehmen, dass der Mann vom Adler auf der Erde abgesetzt wurde.»
«Sonst wäre die Geschichte sinnlos», meinte Inina.
Die Korbsessel fühlten sich unterdessen an, als wären sie angepasst worden. Ein angenehmes Lüftchen erfrischte die Gesichter.
«Für damalige Verhältnisse, ohne Flugzeuge, eine bemerkenswerte Vorstellung», nickte Adriano. «Die müssen vom Fliegen geträumt haben, wenn sie Adler sahen, und die imaginierte Sicht aus grösster Höhe muss gewaltig, beinah unvorstellbar gewesen sein. Die ozeanische und terrestrische Welt entschwindet im Mythos, die allmähliche Verkleinerung des Meeres zum Trog gelingt, auch die vom Festland zum Kuchen.»
«Chaos jedoch im Verhalten», übelegte Inina mit salzigen, paprikaroten Lippen. «Der Adler frisst die Eier der Schlange. Seit je Inbegriff des Weiblichen. Etana hat eine Frau, die nicht schwanger werden kann. Die eine männliche Figur vernichtet Nachkommen, die andere kann keine haben. Besser geht der Witz nicht. Und du kannst Gift oder sonst ein Kraut darauf nehmen, dass Etana seine Frau gebären lassen wird, bis ein Sohn daherkommt. Etana sagt zum Adler: ‹Schaffe mir einen Namen.› Der Name verewigt sich bekannterweise, wenn ein Sohn geboren wird. Zudem», fuhr Inina fort, «der Mann-Gott delegiert das Heilen einem Menschen-Mann, um seine Aussage, Etana solle sterben, klammheimlich in Bedeutungslosigkeit zu versenken, indem er sich der Verantwortung seiner Worte mir nichts, dir nichts entzieht. Typisch männliche Aufsplittung von Aufgaben und Verantwortung untereinander. Und … der Mann hat sich schon mal gut positioniert als Gott im Himmel, schleicht sich von unten an die Göttin heran …» Inina stutzte. «Da stimmt was nicht» – und sie doppelte nach: «Sehr nicht!»
«Wie meinst du?», fragte Adriano.
Sie klärte: «Die Männerwelt baut Hierarchien. Die Göttin ist hier oben, statt allumfassend. Sie in eine Hierarchie hinein zu degradieren ist ein cleveres Spiel.»
Bewundernd fügte Adriano an: «Oh, ein gewieftes Männerspiel. Sie ist nicht mehr die ganze Welt, sondern in eine Rangfolge gequetscht, wenn auch zuoberst.»
Inina liess Mineralwasser die Kehle hinunterperlen, leckte die Finger ab und meinte mit kohlesäurestimuliertem Gaumen: «Etana ist Hänschen klein, ohne Mami in der weiten Oberwelt, hat Höhenangst.»
Adriano wiegelte ab: «Bis dahin hat er es immerhin geschafft. Er ist mächtiger geworden.»
Inina zählte auf: «Du hast als Adler meine Kinder gefressen. Damit fängst du übel an. Hattest als Etana nicht den Mut, bis zu mir hinauf zu fliegen. Als oberstes Manngottwesen wiederum bist du immer noch unter mir. Machst zwar schöne Hierarchien und berätst auf armselige Weise hilflose Schlangen und Adler, in letzter Konsequenz aber ziehst du als Mensch den Schwanz ein. Kehrst um, sobald es dir zu steil und unsicher wird, sobald du die Erde nicht mehr sehen kannst, sprich den Boden unter den Füssen verlierst. Das Weibliche bleibt verehrt. Du hast grad mit Flugstunden angefangen.»
Weitweg die Alpen im Blick, notierte Adriano: «Der Mann nimmt sich vor einigen tausend Jährchen allmählich Freiheiten heraus.» Er tat einen grossen Atemzug und sagte plötzlich: «Sie brauchten 100 Millionen Jahre, um sich aufzutürmen.»
«Wer?», fragte Inina verwundert.
«Die Alpen. In jenem Zeitraum lebten die Dinosaurier, sogar lange davor bis lange danach. Die waren ganz schön ewig auf der Erde. Vor 235 bis 66 Millionen Jahren trampelten die Tiere umher, während die Felsen stiegen. Stell dir vor: Sie schauten zu, wie die Alpen wuchsen. Einige starben aus, neue entwickelten sich, ein Kommen und Gehen bis zum endgültigen Verschwinden. Sie hinterliessen Spuren im Alpgestein. Uns bleiben nur noch kleinste Dinosaurierchen, Hühnchen, die wir essen, Vögel aller Art.»
Das Paar bestellte Apfelschorle.
(S. 523)
Wir wissen heute nicht viel über die Menschen in jenen späten 2030er Jahren, in denen weibliche, männliche, etwaig ganz verschiedene und alle vielseitigen Sapiens die Wahl hatten, entweder das erreichte Kulturniveau zu bewahren oder in Richtung Prähistorie zurückzufallen. Was uns nicht daran hindern sollte, herauszufinden, welche Gedanken und Vorstellungen sie gehabt haben mögen. Wir wollen die Architektur der hereinbrechenden Schwierigkeiten nachvollziehen können.
Fraglich wurde nunmehr, ob die Macht der Freiheit oder die der Einschränkung gewinnen würde: da letztere unterdessen an die chinesische Weltwährung Yuan und die damit verbundenen Sanktionen gekoppelt war. Wir könnten, wenn wir wollten, enzyklopädisch nachschauen, wann genau die Periode begann, die im Nachhinein in eher technischer Weise «anthropo-desinformatives Loch» oder, von Optimisten, «die Delle» genannt wurde. «Zweites Mittelalter» nannten es die historisch Bemühten, sprachen davon, Macht habe sich endgültig über Recht erhoben. Die ewig Negativen fabulierten lange vor der Krise vom Milieuzerfall und dem Ende der Menschheit. Religiöse postulierten eine Hölle, auf die Gerettete hinunterblicken würden. Chinesen bezeichneten den Übergang entweder als «das Wasser hat das Boot zum Kentern gebracht», bedeutend «unzufriedenes Volk stürzt Regierung»; oder reumütig «Das Pferd ist doch ein Hirsch», abgeleitet von einem Sprichwort aus dem zweiten Jahrhundert v. Chr. Damals hatte ein Kanzler vor dem Kaiser den anwesenden Ministern abverlangt, einen dem Kaiser geschenkten Hirsch zum Pferd zu deklarieren. Jene, die beipflichteten, überlebten. Die den Hirsch als Hirsch entlarvten oder erschrocken schwiegen, wurden hingerichtet. Wieder andere Chinesen gaben den «Löwen auf der vierten Etage» die Schuld für den Kontrollverlust. Die «4» eine durchdringend anerkannte Unglückszahl, weil phonetisch dem «Tod» ähnlich und weil bei den Himmelsrichtungen der bedeutungsvolle fünfte Punkt fehlt, die Mitte.
Soziale Systeme und kommunikative Netze barsten zeitweilig. Enorme Datenmengen, Registerinhalte, Adressen, Überwachungs- und Lesesoftware gingen durch Energiemangel, Abspeicherungs-Durcheinander, Unübersichtlichkeit verloren. Die Stromversorgung für Serverfarmen auf Feldern und in Kavernen wurde lückenhaft. Man redete vom «emmentalerisierten Netzwerk». Nur Norwegen hielt stand.
Die Ökonomie war völlig durcheinandergeraten. Das monetär-elektronische Gewirr und sich selbst aufbauende Millisekunden-Transferautomatismen trugen zum Trauerspiel bei. Energieflüsse, Rohstoffe, Absonderungen aus gefährlich hergestellten Gütern, nervtötende Handlungsabläufe, resonanzlose Dienstleistungen und unreflektierte, nichtssagende Informationsmengen – all dies laugte das Unten aus und nützte dem Oben immer weniger, um begeistert zu sein. Die Kraftpumpen schluckender Hochverbrauchsgesellschaften, deren komplexe Ordnung es aufrechtzuerhalten galt, erlahmten im grösser werdenden Gefälle.
Das Unheil hatte sich über Jahrzehnte dahingeschleppt, im Glauben, es gehe dann schon. Evolution oder Devolution war die Frage und welchem Imperium als nächstes die Idee kommen würde, sich über alle anderen zu erheben, nur um erneut an Perspektivlosigkeit zu scheitern. Das vorläufig letzte Imperium war jenes der geographieüberschreitenden gierigen Elite, deren digitale Maschinen jeden Verlauf vorzeichneten.
Ob sich die Menschheit durch Denken, durch Beweisführung umkrempeln liess? Man wusste, dass Krieg, Mobbing und fehlende Umsorgung schädliche DNA-Leseverschiebungen verursachten. Schwierig, dies Wissen in die zielbestimmende Politik zu tragen.
Es schmolzen polare Nordroute und Antarktis. Der Handel mit Frauen und Kindern von Arm zu Reich blieb widerlich. Es mangelte an Durchsetzungsstärke, Unversehrtheit zu organisieren. Die Control-Alt-Delete Tastenkombination blieb lange Zeit dort gedrückt, wo die Begriffe «Blickfelder, Klugheit, Reife, Gelehrsamkeit, Einsicht und Sachverstand aufzutauchen versuchten.
In der Quantencomputer-Ära ...
1. (S. 293)
...
Man sah den Genfersee, die Form eines verkehrten Croissants. Er leuchtete auf, als das Flugzeug zufälligerweise im richtigen Winkel zur Sonne lag. Sie pflückten Erdnüsse aus einem Tütchen, liessen sich gehen, palaverten, schmiegten sich an, blickten irgendwann auf mattblaues Wasser – sie flogen über dem Mittelmeer.
«Wir kennen uns gut, von früher», sagte sie.
«Kann man wohl sagen.»
Serviert wurden unterkühlte Sandwiches.
«Wir können fliegen», meinte sie.
«Wir können fliegen», bestätigte er.
«Auch im Flugzeug.»
«Auch im Flugzeug», wiederholte er lächelnd.
An den Passagieren rechts vorbei sahen sie im Norden als fernen Streifen die französische Küste.
Unvermittelt sagte Inina: «Wir sind mächtig.»
Adriano stutzte: «Was meinst du? Wegen der Aussicht?»
Sie erklärte: «Wir sehen auf die Erde hinab. Wir benutzen Flugzeuge und Computer. Uns geht es gut. Warum ist die westliche Welt so mächtig, dass sie die Menschheit technisch beherrschen, aber auch kaputtmachen kann?»
«Interessante Frage», meinte er.
«Kommt dir eine Idee?»
Adrianos Augen sprangen nach links und rechts, blieben einen Moment zur Decke gerichtet. Mit theatralischer Geste begann er: «Konfuzius …»
Inina erwartete stets Hübsches und Abstruses von ihm. Beide lachten sie ausgiebig. Adriano sprach: «Drei Denkweisen sehe ich auf unserem Globus.» Tief atmete er ein: «Konfuzius, fünfhundert vor Christus, bewachte das Denken streng, mit Regeln des Verhaltens, der Art und Weise wie jeder sich aufzuführen habe. Diesem Muster unterworfene Bürger denken noch heute gehorchend und schlüssig.»
Ihm ins Wort fallen wollte Inina nicht. Was Adriano mit schlüssig meinte und wo er hinwollte, blieb offen. Sie kannte nichts über Konfuzius ausser spitzem Bart, langen Haaren und schmalen Augen.
Adriano sammelte sich. «Das konfuzianische Denken ist vorhersehbar. Es ist ein Denken in zwischenmenschlicher Ordnung. Wenn sich alle daran halten in der Logik, dass derjenige oben sich um den Unteren zu sorgen, der Untere zu gehorchen hat, bleibt das Gefüge stabil. Das meine ich mit schlüssig. Wissen wurde vom Meister zum Schüler übertragen. Der Meister vermehrte sein Wissen zu Lebzeiten. Der Schüler folgte seinem Tun während Jahrzehnten. Früher war dies effektiv, die Langsamkeit nicht konkurrenzhemmend. Noch hast du in Japan, China, Korea Mattenmacher, Musikinstrumentenbauer, Karate- und Kung-Fu-Lehrer, Schwertschmiede, die ihr Können so weitergeben. Viel Zeit vergeht, bis neue Ideen greifen. Diese Kultur ist Gruppen- und Staatskultur. Sie lässt das Innenleben des Einzelnen nicht zu. Die Meinung der Eltern ist wichtiger als Selbstständigkeit und Fantasie des Kindes. ‹Alle› sind wichtiger als ‹Ich› – oder ‹Du›.» Gefolgschaft ist wertvoller als Suche nach Dingen, die ausserhalb des Kollektives sind. Einer seiner Sprüche lautet … Hmm, muss überlegen … so ungefähr: ‹Wer sich nur um sein eigenes Leben kümmert, bringt die menschlichen Beziehungen durcheinander› – oder ein anderer: ‹Wer moralisch regiert, gleicht dem Polarstern; der bleibt an seinem Platz, alle andern kreisen um ihn herum›. Geht so weit, dass eigene Ideen nicht erwünscht sind. Man denkt sich eingebettet in einem Ganzen. Hirnscans zeigen, dass diese Kultur bildgeprägt ist. Die Schriftzeichen sind wie Icons. Von Kind auf benutzen die Menschen beim Rechnen Zählrahmen, sind auch handlungsbetont. Das westliche Denken hingegen funktioniert alphabetisch. Sinngebung erhält es durch eine Aufreihung von Einzelklängen, den Buchstaben – was einem abstrakten Denken förderlich ist, weil seriell gedacht wird eher als in Bildern, als in bildhaften Symbolen.»
Adriano machte eine Pause und fuhr fort: «Konfuzianer sind Nachahmer, lernbegierig und fleissig.» Er schälte bei der Aufzählung Daumen, Zeige- und Mittelfinger nacheinander aus der lockergehaltenen Faust. «Sie kopieren und veredeln. Patente kümmern sie nicht, weil Kopieren Ehrerbietung an den Erfinder ist. Doch sie führen ihr Denken an der Leine. Abkupfern generiert zwar tugendhafte, aber keine das Unbekannte und Ungewisse erforschende Menschen. Sie sind kreativ im Umsetzen und Verbessern von Vertrautem. Ehren das Alter und die Vorfahren.»
Inina folgte ihm aufmerksam.
...
2. (S. 315)
Der Airbus füllte sich bis zum letzten Platz. Der geplante Rückflug war gestrichen worden, Sparmassnahme. Die Stunden Wartezeit hatten sie gelassen hingenommen. Die Umbuchung fand im spanischen Modus statt, nichts war organisiert. Dank eines hilfsbereiten Angestellten bekamen sie einen Platz. Der Mann hatte sich gekümmert, telefoniert, brachte sie in die First Class. Draussen lud man Container. Die Düsen summten, während sie auf das Startfenster warteten. Beim Check-in war nichts kontrolliert worden. Hatten sie doch drei Flaschen Weissen bei sich. Terroristen hätten sie zerschlagen als Waffe benutzen können.
Nach dem orgastischen Abheben, noch schwang sich der Wundervogel höhenwärts, verband Inina die Idee der Aussicht diesmal mit körperlichen Glücksgefühlen und stellte dieselbe Frage wie beim Hinflug: «Warum sind wir mächtig?»
Adriano lächelte und wartete.
Sie blickte ihn ruhig an und erklärte: «Ich meine: zu zweit. Was treibt uns zusammen und gibt uns das Gefühl, als Paar mächtig zu sein? Was ist die Essenz dieser Stärke? Interesse aneinander? Sex? Ist die Kraft mehr als das gewöhnliche Zusammensein von Menschen in der Familie oder das Gefühl, einer Freundin anzugehören?»
«Bei Liebenden ist es eins plus eins gleich drei», antwortete er.
«Wohl schon. Die Anziehung, die uns Sinn gibt, macht mehr aus uns als zwei.»
Adriano fand: «Wir begeben uns intensiv in die Welt des andern.»
Inina bejahte: «Und damit in unsere eigene. Aber die Frage ist nicht beantwortet. Warum diese dritte Kraft?»
...
1. Der Frau das Wort genommen (S. 431)
2. Zum Gewicht weiblicher Gedanken (S. 96)
3. Zu männlichen und weblichen Prinzipien (S. 320)
4. Monotheismen (S. 433)
1. Der Frau das Wort genommen
Hitze. Am Fluss. Wasserstand noch niedriger als Tage zuvor. Dürre Flecken im Gras, bloss Staub. Sie redeten. Bewaffnete Reiterinnen bevölkerten des Historikers Herodot Schriften. Homer schreibt im Ilias von Kriegerinnen, deren Anführerin, die Amazone Penthesilea, gegen den stärksten Mann, Achill, kämpft im Wissen, dass er sie umbringen wird.
«Eine übertriebene Männererfindung», sagte Inina. «Eher suchen Frauen Zuflucht in Wäldern, wenn Krieg herrscht. Die beseitigte Brust der Amazonen, um der Bogensehne beim Abschiessen Platz zu machen – abwegige Idee. Wie krank muss jemand sein, um so was zu behaupten? ...
[1 Seite übersprungen]
... Inina klärte: «Die Griechen bildhauerten das ‹archaische Lächeln›. Wenn man unbewegten Auges lange genug ins Marmorgesicht einer dieser Statuen schaut, scheint das Lächeln lebendig zu sein und lächelt zurück. Ein Zeitgenosse Sapphos, Solon, Staatsmann und Lyriker, soll ausgesprochen haben, er wolle Sapphos Lieder lernen und sterben. Im Christentum wurden ihre Schriften verbrannt. Ich lese: ‹Ja wenn ein Blick nur dir begegnet, Lesbia, stockt der Atem tief in der Brust mir; und die Zunge erlahmt, mein Gebein durchrieselt abwärts flüchtiges Feuer, vom eignen Klange gellt der Ohren Paar.›»
Der Hitze und des piksenden Grases wegen gingen sie nach Hause. Legten sich auf dem Balkon in die Liegestühle, Literflasche Wasser zwischen ihnen. Im Nachhinein würden sie sich erinnern, am stahlblauen Himmel-Horizont pastellgraue Wolkenschleier erkannt zu haben.
«Der Mann hat die Frau aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen, die Überlieferung ihrer Symbole verunmöglicht, ihr schlicht das Wort genommen», meinte sie.
Vom Paar freudig vorgebracht, tritt der Monotheismus aus den alten Götterzeiten hervor. Jahwe, «der auf den Wolken reitet, und Blitz und Regen schickt», wird zum nicht abzubildenden einzigen Gott. Der Mensch hat mit einem unsichtbaren Ebenbild auszukommen. Über Jahrhunderte gesammelte Schriften ergeben das Alte Testament. Propheten verdammen die orgiastischen Kulte der Priesterinnen als Tempelhurerei. Michelangelo wird den Jahwepriester Moses mit Stierhörnern darstellen. Der alte Brauch der Männerbeschneidung bedeutet ab sofort: Du gehst mit Gott einen unauflöslichen Bund ein. Gott wird benutzt zur Buchführung von Schuld, Sünden, Rechtschaffenheit und Frömmigkeit. Man muss die eigenen Entscheidungen rechtfertigen. Nicht die Göttercharakteren, sondern man selbst ist verantwortlich. Gott gibt Adam den Namen, Eva bekommt ihn von Adam. Der Grieche Thales wird sagen, er sei froh als Mensch, Mann und Grieche, nicht als Tier, Frau oder Ausländer geboren worden zu sein. Auch gibt es Männer, die sich beim Morgengebet bedanken, nicht als Weib auf die Welt gekommen zu sein.
«Man muss sich das mal vorstellen», meinte Inina lapidar.
Das Musikgeplärr vom Park nahm zu. Personale Grills, an kleinen Rauchsäulen ersichtlich, wurden installiert um den Rasen mittels Versengung zu beschädigen, künstlich-stinkende Luft zu erzeugen, Würste, Hühnerbrust und ähnlich Fleischiges fröhlich zu erbraten.
Sie holten eine Kanne gekühlten Milchkaffees und zwei Gläser. ...
2. Zum Gewicht weiblicher Gedanken
Der Verkehr in einer dieser zweitrangigen Strassen Barcelonas, vor dem Café, wo sie am Nachmittag sassen, störte nicht, man war in der eigenen Ferienwelt. Gleichgültig brachte ein gelangweilter Kellner zwei Tassen Espresso. Nach Salatteller, Parmaschinken und einer ersten Runde Espressi hatte Adriano einen zusätzlichen für sich bestellt. Nun aber standen zwei dieser Zusätzlichen auf dem Tischchen.
Inina zeigte sich leicht verärgert. «Warum bringt der mir auch einen?», fragte sie und fand: «Er hat automatisch mich mitgemeint und denkt, der Mann bestelle sowieso für beide.»
«Südländer», kommentierte Adriano scherzend.
«Ah! – Südländer. Du bist auch Südländer und tust so was nicht. Der meint voll retro, ich sei dein Anhang. Und Nordländer sind Machos anderen Art, verbissener. Am Ende wird der Kellner dir die Rechnung bringen, sogar wenn ich! sie verlange und bezahlen möchte, wetten?»
Adriano stellte mit künstlich gelangweilter Stimme fest: «Für Männer auf der ganzen Welt sind Frauen Anhängsel.»
«Weiss ich. Aber die ganze Welt ist nicht hier. Für den zählen meine Wünsche nicht, nicht mal, wenn ich schweige und nichts will. Für solche Männer haben die Gedanken einer Frau schlicht keine Bedeutung.»
«Doch, doch», stichelte Adriano, «aber nur, wenn sie du mir mitteilst und ich sie weitergebe.» Er präzisierte: «Beziehungsweise, nachdem ich sie gefiltert habe und ausschliesslich mitteile, was ich davon für richtig halte. Immerhin hat er interpretiert, dass du einen Kaffee haben darfst.»
Inina lächelte herausfordernd und sagte: «Du Aff! Wieso ist das? Wir nehmens so hin. Aber warum sind weibliche Gedanken weniger wert als männliche?»
«Muss mit dem Gewicht der Gedanken zu tun haben», kommentierte Adriano mit wissenschaftlicher Akribie. Beide lachten, er so lange, bis Inina ihn mitleidig anschaute. Die Angelegenheit war ihr ernst. Sie erzielte beruflich handfeste Resultate, hatte dasselbe gelernt in der Schule wie Männer, Recht, Mathe, all das Abstrakte, konnte Fahrzeuge reparieren, besser als mancher Mann. Sie fragte: «Warum tun Männer, als wären sie wichtiger als Frauen? Funktioniert ihr anders als wir?» Sie überlegte kurz, ob die Ungleichheit nicht im Geschlecht, sondern im Gegensatz Handwerk gegen Kopfarbeit läge? Dem war nicht so. Handwerksmänner konnten genauso kopfig und egoistisch sein wie alle anderen. Im Geschichtsunterricht redete man nur von Männern. Adriano tat dasselbe, wenn er was aus der Antike vortrug. Wo waren die Frauen? Wo war sie selbst? War sie zum Anders-Sein trainiert worden? Frauen sind erfolgreich, Ingenieurinnen, Regisseurinnen, Politikerinnen, Komikerinnen. Im Fitnessclub arbeitete eine sympathische Blonde als Aushilfe, der viele, die es nicht sehen wollten, auch nie angesehen hätten, dass sie hauptberuflich Automechanikerin ist. Frauen standen den männlichen Kollegen keinen Deut nach, und doch? Inina tat, als hielte sie ein Mikrofon in der Hand, gebe eine polizeiliche Meldung durch: «Gesucht wird ein Verbrecher namens ‹Unterschied›. Wir haben ihn noch nicht ermittelt. Er ist nach wie vor flüchtig. Seine Eigenschaften …», sie wackelte mit den Händen und sagte laut, als hätt sie Kopfhörer über, «… sind: ungreifbar vorläufig, tarnt sich, versteckt sich möglicherweise in Menschen, um Frauen oder Männer aus ihnen zu machen. Hinweise bitte an die Zentrale.»
Am Tisch nebenan wars still geworden, untrügliches Signal, dass zugehört wurde. ...
3. Zu männlichen und weblichen Prinzipien
Der Limmat entlang neben Adriano spazierend, am vierten Tag nach Barcelona, bemerkte Inina, ihren Ohrstöpsel richtend, Minidisc am Gurt: «Wir hatten lange vor Orpheus in Mesopotamien diesen wunderschönen Mythos Inana. Die Göttin des Lebens reist zu ihrer Schwester Ereschkigal, Göttin der Totenwelt. Inana wird von dieser Reise gestärkt, kehrt in eine Welt voller Blumen und Liebe zurück. Durch die Rückkehr selbst wird die Welt schön. Und was macht der Mann, Orpheus?»
Adriano, mit lose hängendem Kabel, das sich manchmal verhedderte, am selben Gerät angeschlossen, forderte Verständnis: «Ein bisschen Schlangenbiss und Frauentod, ein zweites Mal dieselbe Frau umbringen, indem er sich bloss mal umdrehen muss … Ein Mord per Sehstrahl ist dies gewiss und tut der Geschichte gut. Gelehrig gesprochen: Orpheus verkörpert den Mut zur Handlung. Er entscheidet, seine Liebe retten zu wollen, wagt sich heldenhaft hinab ins schlimme Totenreich. Bringt sie zwar in dümmlicher Unachtsamkeit mit einer Kopfdrehung um, aber …»
Inina hatte Adriano durchdringend angeschaut, bis er es merkte.
«Mir wird schlecht», sagte sie. «Das Männliche hier weiter zu vertreten, und wenn nur zum Spass. Es ist immer das gleiche selbst-rechtfertigende Gebrabbel. Inana und ihre Schwester Ereschkigal begegnen sich lange vor Orpheus' Zeit in der Unterwelt. Sie sind anders. Sie gehören zusammen, und zusammengenommen ergeben sie Weisheit. Inana stellt sich dem Tod, wovor wir alle Angst haben.»
Adriano lenkte ein: «Ich ahne ja unterdessen, wie schön ein befreites, erfülltes und grenzenloses Drinnen sein kann, wie das Weibliche anders hinabgeht in die Höhlen der Unterwelt.»
Ininas Kopf neigte sich zur Seite. Sie waren sich einig. Der Unterschied der beiden Erzählungen vom Gang in die Unterwelt war kurios. Da war Inana, vom 4. bis ins 2. Jahrtausend v. Chr. verehrt, von der die alten Griechen vielleicht wussten. Sie stieg ohne Grund – Inina betonte: «ohne Grund» – in die Erforschung der Todeswelt, wo ihre Schwester das Sagen hatte.
«Und da macht ein armer Tropf, der Orpheus, der Star der griechischen Sänger und Dichter, alles falsch, was man falsch machen kann», rief sie etwas laut, «er, der gar mit Jesus verglichen wird, vermutlich des Leidens wegen. Die Frau weiss seit langem, dass man an die Stellen, wo es dunkel ist, gehen und zurückkommen kann.»
Anerkennend stellte Adriano die Lippen in die feinen Luftturbulenzen, die seine Nasenflügel kitzelten, und sagte: «Du riechst gut.»
«Intuition!», nannte Inina den Namen des Parfums. Schnupperte beiläufig an der Innenseite ihres Handgelenks und fuhr fort: «Nehmen wir die Dummheit des Mannes, der erst mal nur deswegen ins Schattenreich geht, weil die Freundin mausetot ist, sodann die Frau erneut sterben lässt: beides Todsünden sozusagen. Inana steigt von sich aus hinab und kommt glücklich in die Welt der Lebenden zurück.»
Adriano berührte mit dem Zeigefinger die Schläfe und sagte: «Ich hab eine Idee.»
Inina holte mit ihrem Zeigefinger aus und bremste dicht vor Adrianos Nasenspitze: «Inana repräsentiert das intelligente Prinzip, lange bevor, hörst du, lange bevor Orpheus ein männliches, in Erkenntnisfragen unverkennbar Doofes ins Leben ruft.»
«Eigentlich wollten wir bei der ehrenwerten Abwicklung des Altertums in neutralem, ausgewogenen Modus diskutieren», bemerkte Adriano.
«Es ist ungleich», insistierte Inina. «Im Geschichtsverlauf ist es total ungleich.» «Erkenntnis heisst Dunkelheit heisst Angst heisst Mut, in jene Schatten zu gehen, und zwar, weil die Person will, nicht weil sie muss. Umso heller das Licht, das du hineinbringst, desto schärfer die Schatten. Im Inana-Mythos steht: ‹Das Reich von Tag und Nacht›. Inana hat sich dem gestellt: Sie musste ihre sieben Sachen am Tor zur Unterwelt abgeben, Ohrring und so, nackt hinein, Abscheulichkeiten ertragen. Der Erkenntnisweg ist unsere Macht. Vergiss nicht, wir wussten über uns, in ganz frühen Zeiten, während ihr zwar liebenswürdigerweise Grosstier gejagt habt, aber ignorant geblieben seid. Was bedeutet uns dieser Orpheus, der nicht bis zur endgültigen Rückkehr ins Leben darauf verzichten kann, sich nach der Frau umzudrehen?»
Adriano notierte diskret: «Er kann wie jeder Mann nicht lassen, sich umzudrehen und auf die Frauen zu schauen. Orpheus war ein Italiener, scheints.»
«Auf eine! Frau, mein verehrter, auf eine Frau.»
«Auf eine Frau», gab Adriano frohgemut zu.
Voller Lust nach Anerkennung fuhr Inina fort: «Wenn wir die Dinge als Prinzipien betrachten und das Totenreich mit dem tiefsten Inneren unseres Selbst gleichsetzen, liest sich die Geschichte einfach: Die Frau geht in sich und erfährt ihre dunklen Seiten. Sie geht freiwillig, weil sie von Natur aus ahnt, dass es gut ist. Sie nimmt das Sterben hin. Im Inana-Mythos versuchen nacheinander zwei Männer, sie ins Lebensreich zurück zu holen. Dem zweiten, Dumuzi, gelingt die Aktion, während der erste unten zurückgehalten wird. Dumuzi spielt begnadet Musik auf einer Flöte aus Lapislazuli, dem blauen und funkelnden Stein, der aussieht, als wäre er goldbesprüht. Siehst?», rief Inina begeistert. «Um rauszukommen braucht Inana das männliche Prinzip. Wenn wir bewusstes Wahrnehmen dem gleichsetzen; läuft mir zwar entschieden zuwider, aber Zuordnen ist Zuordnen. Bewusstsein wurde hier männlich personifiziert. Auch Himmel wird männlich personifiziert. Heisst ja nicht, dass die Erde eine Frau ist oder Frauen nur Erde», regte sich Inina auf, «Himmel ist einfach Himmel und Erde Erde, was solls. Aber Geschichten sind im Denken dieser Teilung entstanden, also teile ich fürs Verständnis vorerst. Dumuzi spielt auf der Lapis-Flöte, der Klang ist das Bewusstsein – dies die Symbolik. Es spielt und heilt. Dumuzi hat Qualität. Der erste, der Inana aus dem Totenreich hinausführen wollte, scheiterte, weil er ein billiger Entertainer war, der oberflächliche Musik spielte. Dumuzi hat Erfolg, weil er die Kunst reiner Klänge beherrscht, wie im Mythos gesagt wird, und weil er von einem Haufen Frauen begleitet wird. Ist doch herrlich?! Von vielen Frauen, und keiner verstehts! Frauen, die ihn auch von nichts abhalten können. Es muss ein Mann sein, der sich nicht beeindrucken lässt, der sich mit ihnen allen unterhalten kann, souverän umgeht mit dem Weiblichen, sich nie verliert, der die eine Frau stets im Bewusstsein hat. Sie ist sein Ziel. Ein lebensfreudiger, sexy Mann, und voll konzentriert. Er kann sich auf sich selbst verlassen.»
«Wow», staunte Adriano ob der Wucht Ininas Gedankenwerks, hielt nach kopfnickender Pause fest: «Wir ordnen dem Weiblichen anderes zu als Männlichem und machen Prinzipien daraus.»
Inina stimmte schicksalergeben zu, sagte nochmals «vorläufig», zog ihre Überlegungen weiter: «Orpheus also, dieser in der Männerwelt grossgewordene Mann, getraut sich erst ins Dunkle seiner selbst, als ihm die Eurydike wegstirbt, das Weibliche in ihm so weh tut, dass er es entdecken, herausholen möchte, nein, nicht mal möchte, sondern sich dazu gezwungen sieht. Passt! Der Mann fällt, wenn die Frau ihn verlässt. Bei der Rückkehr in den Alltag bringt er es nicht fertig, ausschliesslich und rein nach vorne zu schauen. Er muss sich wenden, nach der Frau glotzen. Geht weder wirklich voran, als er die Hölle hinter sich gelassen hat, noch bleibt er in sich. Verliert stattdessen den Überblick. Sein Bewusstsein ist getrübt, eine Funzel bloss. Er kann das Wissen, das ihm mitgeteilt wurde, nicht umsetzen. Bleibt trauriger zurück als zuvor, spielt von nun an Depro-Musik.»
Inina atmete ein und schmetterte Adriano unerwartet die Botschaft hin: «Ich möchte dich nicht wiederhaben, wie du einmal warst.»
«Danke für die Lorbeeren.»
Sie fuhr fort: «Der Mann wartet ewig auf das Weibliche, das niemals wieder auftauchen wird, bis er selbst stirbt. Der wünscht sich womöglich das Ableben, um sie wieder zu sehen. So ein Mist. Erkennt nicht, was in ihm los ist, verliert dabei den Kopf, der ihm konsequenterweise im Mythos von femininer Seite abgehauen wird. Er betrachtet die Frauen als böse – was sie ihm gegenüber berechtigt auch sein dürfen. Sie bringen ihn um, und wieder verstehts keiner. Den ehrenwerten Schädel abhacken und an die Leier binden tun sie, oder nageln, je nach Narrativ. Denke an die edle Musik, die hätte helfen können. Wär an ihm gelegen, glücklich zu sein.»
Adriano klopfte mit der Faust in die hohle Hand und rief: «Brillant.»
«Gell?» Inina erstrahlte und fügte an: «Inana als Göttin lebte fort, trotz Diktatoren und Chauvinisten, die sich gegenseitig ihr Land – es war ihr Mesopotamien – wegnahmen; jeder wollte der grösste sein. Schliesslich wurde Inana das Stadttor Babylons gewidmet, bevor sie komplett verschwand. Und heute steht das mehrstöckig hohe Originaltor aus schönster blauer Keramik und Tierreliefs im Pergamonmuseum zu Berlin.»
Adriano dachte laut nach: «Hoffen wir, dass Frauen nie mehr ins Unauffällige begraben werden wie damals Inana.»
«Vielleicht sind die Geschichten auch nur im reinen Glauben an die Göttin und nicht aus tieferer Erkenntnis erzählt», überlegte Inina plötzlich mistrauisch.
«Wir wiegen ja ab», meinte Adriano, «wo beschriebene Fakten sind und wo unsere Interpretation. Womöglich finden wir Hinweise, ob einzelne Menschen sich ihrer selbst bewusst waren in Mesopotamien.»
Inina überlegte: «In jedem Fall kommen die Geschichten aus dem Innern der Menschen. Dieser Ursprung ist universal – logischerweise.»
Adriano stimmte zu: «Von irgendwo müssen die Dinge kommen. Unser Inneres, unser Sein hat die Mythen, den jeweiligen Glauben nach urmenschlichen Massstäben hervorgebracht. Dieses Etwas ist uns allen gleich, hat mit Sprache zu tun und unterscheidet uns vom Affen.»
Inina legte nach: «Der Boden, auf dem wir wachsen, ist immer gültig gewesen, ist es heute noch. Obwohl wir vielleicht nie wissen werden, wie bewusst Frauen oder Männer Eigenes sehen konnten, haben sie doch an Götterwesen geglaubt, die dies und jenes verkörperten.» Sie fügte hinzu: «Mythenweg ist Tiefenweg.»
Adriano definierte technischer: «Mythen entstanden aus dem Kollektiv. Sie verwirklichen ein ewiges Hier und Jetzt, kennen keinen festen Raum und keine definierte Zeit. Darum sind die Gottheiten unsterblich, oder ewig präsent – solange man sie will. Alle leben sie noch heute im Kino, in Theaterstücken und Büchern.»
Nach einer Weile sagte Inina: «Orpheus hat männliches Scheitern gezeigt, den totalen Schiffbruch. So weit waren wir.»
Adriano lachte: «Der Arme hat seine Schwiegermutter treffen müssen, dort unten.»
«Es ist Persephone, die Gemahlin des Totengottes, nicht die Schwiegermutter», protestierte Inina.
Adriano erklärte: «Persephone gibt Anweisung, Orpheus dürfe sich nicht umdrehen. Die Anweisung ist ungerecht und unlogisch. sie muss eine Art Schwiegermutter sein, manipulativ und rechthaberisch. Sie will ihr Reich und sich selbst als Welt bestätigt haben. Sie wusste, er würde in die Falle laufen, und Eurydike in die Welt der Toten zurückkehren. Persephone kannte die Männer, ob Grieche oder Italiener. Und was machen wir noch? Wir nehmen hin, dass Eurydike hinter ihm zu gehen hatte. Wenn sie Hand in Hand gegangen wären? Es muss die Schwiegermutter gewesen sein, darauf bedacht, die Schwiegertochter im Griff zu behalten – ja, sie hinter den Mann zu stellen um sich selbst Gehör zu verschaffen.»
Inina klärte: «Wenn ihr wisst, wer, wie und was die Frau ist – dann kommt sie euch auch nach, wenn sie mal möchte. Aber ja, händehaltend; ich bin dafür. Wetten, wenn ihr Männer wisst, ihr könnt wieder raus, wagt ihr eher, in euch zu gehen …»
«Wir wollen halt nicht definitiv umsorgt und festgeborgen im Dunklen stecken bleiben. Männer nehmen sich vor, nie für immer verschluckt zu sein – ob in der eigenen Brühe oder im Reich der Frau. Wir wollen Bauchbewohner mit Garantie für ungehinderten Ausgang sein. Wir wagen den Eingang nur mit Freiheitszertifikat in Händen.»
«Ihr wollt einen Haufen Mist», sagte Inina, «und wo Wollen ist, ist kein Weg. Ihr müsst das Wollen weglassen. Ihr solltet euch einfach fallen und überraschen lassen.»
«Nein-nein. Ihr wollt, dass wir wollen: das hindert uns.»
«Nu mal selbstverantwortlicher, ja? Ihr habt einfach Angst.»
«Frauen haben es leichter, in sich zu gehen.»
«Wir haben auch Angst. Aber es stimmt, wir sind näher dran. Mir gefällt aber die Einteilung in männliche und weibliche Prinzipien wieder nicht. Damit sind wir rasch beim Nicht-Denken-Können der Frau oder dass nur Männer Bewusstsein hätten. Der alte Schwachsinn. Wie lösen wir den Knoten?»
4. Monotheismen
... Inina zugewandt, im Antlitz ihrer aufmerksamen Augen, fuhr er freigiebig assoziierend fort: «Stell dir ein fahrendes Monotheismus-Auto vor, das sich im Laufe der Zeit verwandelt. Der Wagen beginnt im Denken zu entstehen, mit Echnatons Prototypen zu rollen, eine Art Hieroglyphen-gepimpte Rikscha. Diese gewinnt mit dem Judentum mächtig an Kraft, transzendiert sich in einen Rolls-Royce, vielleicht auch in einen schweren Geländewagen, unumstösslich, Vierradantrieb, Range-Rover-Modell. Der fährt vorwärts in der Zeit, färbt sich mit allen Farben im Christentum, wird ein Bus, für jeden besteigbar, mit vielen Plätzen, VIP-Lounge für die Strenggläubigen, später auch mal als Hippie-Bus seine Umwege fahrend. Neu formt er sich, der Monotheismus, fährt im Wüstensand, ein Pick-Up jetzt. Mit einer starken Bremsung schüttet er Imame, Kalife, viel Volk in die Dünen, mit heissen Reifen in der Wüstenspur. Nach vorne katapultiert werfen sich die Gott-Gläubigen in die Zukunft, fliegen, rollen und laufen. Vollbremsung hier, weil nach Koran der Prophet der letzte aller Propheten ist. Intelligente Behauptung. Die Grösse des Ultimativen wird verewigt, alles Vergangene überragt. Die Monotheismen erobern den Globus. Der erste ein sonniger Versuch, heute historisch erforscht, der jüdische ein streitbarer Gott, Jesus blumig und herzlich, gewaltverzichtend, und Mohammed, der nunmehr undiskutable Verkünder unveränderbarer Worte.»
Inina schaute Adriano an, der stirnrunzelnd lächelte: «Hast du grad einen Einfall?»
«Vielleicht sind wir Italiener die wirklich letzten Monotheisten mit dem Lied ‹O Sole Mio›.»
«Ihr geniesst die Sonne, statt sie zum Gott zu machen. Seid bühnengerechte Fantasten, die nichts ernst nehmen. Grosser Vorteil in dieser Hinsicht.»
«Stimmt, der Monotheismus ist bei uns oft Show. Wir leben doppeldeutig. Sind nicht enthaltsam, wie es der Papst verlangt und stülpen ausserehelich Kondome ohne schlechtes Gewissen über.»
«Ihr merkt einfach nicht, wenn eure Frauen ebenfalls fremd gehen», brachte sie lustbetont hervor, seufzte: «Bei der ganzen Geschichte endet die Jungfrau Maria als Überbleibsel.»
Adriano reflektierte scharf: «Die ehemalige Grosse Göttin hat sich nach unten geschlafen, lässt sich zuletzt das Hymen wieder einoperieren.»
Inina erinnerte sich erneut an Rom: «Ich versteh jetzt, warum die Vestalin, die Hüterin des Feuers im römischen Reich, keusch sein musste und ihr Symboltier der Esel war: Reminiszenz an jene längst vergangene Kultur, die Priesterinnen zur Feier von Fruchtbarkeit Erotik ohne Tabu gewährte. Der Sex musste irgendwo landen. Man trennte die Priesterin vom Bumsen und wies dieses dem Eselstier zu. ‹Eh-voilà!› – das Ganze bleibt erhalten.» Sie überlegte und sagte: «Vergiss nicht, gewisse Frauen mögen in der Folge keinen Sex gehabt haben, und alle sind im Laufe der Zeiten hinter den Mann gedrückt worden, aber eins haben sich einige bewahrt: die Selbständigkeit, und wenn als Jungfrau im Kloster. Maria hatte beides: Sex im Irdischen, jungfräuliche Heiligkeit in der geistigen Welt.»
Etwas Milchkaffee ergoss sich auf Adrianos Shorts, als er nachschenkte, worauf er samt Kanne und Glas aufsprang und rief. «Hab die Befleckung empfangen.» Er fügte dezidiert hinzu: «Die Göttin ist tot. Ackerbau und Viehzucht haben ihr das Genick gebrochen vor zehntausend Jahren.»
«Weshalb?», wollte Inina wissen.
«Machbarkeit wurde relevant.»
Inina bestätigte nachdenklich: «Tun wurde wichtiger als Sein.»
1. Gottes gläsernes Raucherzimmer (S. 202)
2. Abgründe (S. 213)
3. Ende Abend Restaurant vor erster Liebesnacht (S. 55)
1. Gottes gläsernes Raucherzimmer (S. 202)
Wir müssen anerkennen: Was Paare regelmässig veranstalten, in der Meinung, nicht voneinander lassen zu können, ist schnell mal ein wenig viel zu viel (uns hier erlaubend, sinnlos Wörtchen zu vergeuden). Gäbe es eine Ansammlung beurteilender Wesen in höheren Sphären, mit gutem Vorstellungsvermögen, zum Beispiel altgriechische Götter oder ähnliche Verbindungs-, Anbetungs- und Befragungssubjekte, gar selbstgewählte Personifizierungen wie Engel und Geister – die meisten würden in zwei Lagern auf gegenüberliegenden Himmelstribünen sitzen, selbstversändlich bei sommerlichen Temperaturen, nicht wie auf der Erde gerade im Advent. Sie würden hinunterschauen und parteiergreifend die Geschehnisse kommentieren: Die Einen gegen die unterwürfige Zicke wettern, die Andern gegen den selbstgefälligen Hornochsen. Und sie würden auf irgendeine Art einzuwirken versuchen. Gewisse Wesen müssten sich zudem in die Haare greifen, mal angenommen, manche von ihnen hätten welche.
Es gäbe aber auch friedlich Gesinnte, die mehr oder minder locker im Kreise sitzend untereinander Optionen besprächen, um in einem günstigen Moment Adriano und Inina zu helfen, ihnen per Eingebung oder per elysäischen SMS-Kurzmeldungen Botschaften zukommen zu lassen.
Vielleicht würden Vernünftige unter ihnen in unterschiedlichen Häufchen herumstehen, delegiert in Ausschüssen die Dinge beraten, Zwischenberichte verfassen und Untergremien bilden.
Einzelne würden wohl auch herumtrippeln und nachdenklich die Stirn runzeln.
Unbestritten gäbe es Solche, die sich bis zur Weissglut aufregten, wenn das Paar Gesagtes und sprachlich Vorenthaltenes separat behandelte. Denn Inina hätte mutig Adriano ihre Angst, und er ihr seine überhebliche Gehörlosigkeit gestehen können, statt sich gegenseitig mit Lügen zu versorgen, weil dies einfacher schien als auch nur dem kleinsten Malheur ins Gesicht zu schauen.
Wohl ein Grüppchen weiblicher Kreaturen würde ein Transparent tragen mit der Aufschrift: «Wieviel Leiden erträgt eine Frau?» Einige davon skandierten lauthals: «Killt den Mann!» Einzelne männliche Exemplare dozierten, die Frau müsse erzogen werden, andere, dies sei ein unnötiges, weil aussichtsloses Unterfangen, wisse doch jeder, dass Weiber nicht erziehbar sind.
In den Augen Weniger sähe man eine grosse Wachheit, welche erahnen liesse, dass sie die ineinandergreifenden Muster erkennten, wie Inina und Adriano das Schräge taten und was sie damit im Leben zu erwarten hatten.
Selbstverständlich gäbe es auch Jene, die, der zwei Quälgeister überdrüssig, heiter diskutierend abseits sässen, als wär niemand betroffen. Und Desillusionierte wären zu finden, ge-burn-outet und leer, die dieses Paar schlicht nicht verkrafteten, apathisch auf Kissen liegend dahinsiechten in der Hoffnung, das Ende käm bald, egal wie, wenn die beiden nur aufhörten.
Ausnahmslos alle aber sind sie Zeugen dieser Tragikomödie, der Bornhiertheit der Figuren.
Und wie bei jeder Theaterinszenierung gäbe es von Zeit zu Zeit eine Pause. Die Wesen würden sich voneinander lösen, herumgehen, Toilette aufsuchen, man würde aus der Menge die üblichen, undechiffrierbaren Gesprächsfetzen hören, Sandwiches würden vertilgt, an Coca-Cola genippt. Da die Luft vermutlich sehr dünn ist da oben, stünde für den Chef-Gott ein gläsernes Raucherzimmer zur Verfügung, des Vakuums wegen in diesen Sphären mit Sauerstoffzufuhr und extra Schleuse.
Beim Gongschlag versammelten sich alle wieder. Man müsste vielleicht zwei Engel, die im Disput den Pauseneingang verstopften, mahnen, nun endlich voneinander zu lassen.
Da dieser Himmel nur für Adriano und Inina bestünde, ginge der Vorhang jetzt wieder auf, denn: Sie machen weiter da unten.
2. Abgründe (S. 213)
Beiden ging es gleich. Alles hatte an Bedeutung verloren. Im wahrsten Sinne des Wortes. Die täglichen Speisen auf den Tischen, und die Tische selbst. Glanzlosigkeit grub sich den Weg durch die Helligkeit des Daseins, gegen das grösste aller Gefühle, gegen die Verliebtheit zweier Menschen.
Das Lebendige in den Dingen verlor sich. Der düstere Spiegel des Geistes ergoss sich ins Aussen. Das Paar hatte sich im Knäuel wildgewordener Verläufe, im Wirrspiel versponnener Strömungen verloren, deren Entgleiten sich ihnen entzog. Adriano und Inina wussten nicht um die Geheimnisse, ihren Acker zu pflügen.
Doch noch einmal gings unerwartet ab, Ende Februar. Schwere, dicke Wolken hingen wie grosse Beutel ineinander verkeilt in halber Höhe zwischen Erde und Himmel. Der Schnee schmolz weg, war nass. Das Paar zog seinen Weg durch den Wald, um Luft zu schnappen und ausnahmsweise wieder einmal miteinander zu reden. Die Dämmerung legte sich übers Land, es wurde dunkel. Wie ein Omen tat sich ein kleines Loch in der Wolkendecke auf, ganz blau und klar.
Inina fragte, warum er sie nicht mehr halte. Ihr fehle die Zärtlichkeit. Unnahbar sei er geworden. Ist nicht wahr, oder doch, er habe viel im Kopf, der Beruf gefalle ihm nicht mehr.
«Du könntest mich trotzdem anfassen.»
Er entschuldigte sich, fragte aber, warum sie ihn nicht mehr anfasse.
Über ihnen kam aus dem grauschweren und dichten Wolkengebilde, aus dieser fast schwarzen Stille, durchs surrealistisch anmutende Wolkenloch das leise Rauschen eines Linienflugzeuges zu ihnen. Der Flieger glänzte, ja funkelte, noch von der Sonne weit über den Wolken getroffen, zog einen leuchtenden Kondensstreifen nach sich wie von einem Stift gezeichnet. Beide schauten hoch und staunten. Meinte eine Kraft es gut mit ihnen? Hier in der Stille des Waldes, wo matschiger Schnee die Nacht nur knapp erhellte?
Inina lehnte sich rücklings an einen breiten Tannenstamm, als Adriano doch näher kam. Verlangte mit wütenden Mundwinkeln und flehenden Augen, er solle sie in Ruhe lassen, obwohl sie ihn innigst bei sich gewünscht hätte. Sich sehnte nach dem, was sie gekannt hatte, was wie ein altes Feuer in ihr zugeschüttet war.
Er kam auf sie zu und drückte sie an die Tanne.
Beider Augen weiteten sich, als sie ihn plötzlich küsste.
Widerwillig schön, wie er seine Lippen auf den ihren hielt.
Sie schauten sich an, überrascht, wach, unsicher, Enttäuschung und Verlangen in einem.
Mit Hingabe und Augenschliessen kam eine Wallung von früher, hinterliess verworrene Fussstapfen im Schnee, als sie sich wortlos torkelnd an einen nächsten Baum lehnten. Im beginnenden Fieber öffneten sich reihenweise Knöpfe, hechelte die Hast, als würde man sich nicht kennen. Lösten sich Jacken und Pullis. Er sagte, so geil wars noch nie, was einer Lüge gleichkam. Es brauche mehr, dachte es in ihr, scheiss drauf, egal. Sie vergass, zog ihn an sich, griff nach ihm, fasste an. Töne lösten sich aus ihrer Kehle, sie keuchte, sah Bilder vor sich, er, dieser Schurke, treibe es mit einer anderen Frau. Stellte sich eine billige Zicke vor, es machte sie heisser.
Gierig nach dem, was von Adrianos Person übriggeblieben war, stiess sie ihn doch weg, zeigte Wut im Kochen der Lust, sprang ihn an, sie fielen zu Boden, Wurzeln taten weh. Sie öffnete seine Schnalle, entledigte sich ihrer Schuhe und Hosen. Beide rissen gemeinsam an ihrem Slip, bis er barst. Und sie nahm ihn. War aber mehr ein Gehopse, als dass es toste. Er knetete ihren Körper durchs langärmlige Shirt, kam auf den Gedanken, sie betrüge ihn wohl, dieser Körper sei von einem andern berührt und besetzt. Sie wehrte sich gegen seine Hände. Er drehte sich über sie, kämpfte von oben. Sie versuchte, ins Sitzen zu kommen. Er biss ihr in den Hals, wollte würgen an der hochpulsierenden Ader, liess ab und stemmte einhändig ihren Unterkiefer, dass ihr Mund sich schloss, grub Daumen und Finger in ihre frierenden Wangen. Ihr Kopf kippte zur Seite, Wange in den Schnee. Sie schäumte Luft und Speichel durch die Zähne, Lippen gequetscht. Packte sein Handgelenk mit beiden Händen, riss es von sich, schüttelte den Kopf frei, Lippen über die Zähne nach innen gepresst. Keuchte mit der Angst des wilden Tieres in den Augen, sendete Keif-Strahlen aus Pupillen und Mund. Adriano hielt sie gefangen. Wenn sie sich befreien wollte, liess er sie los in der Gewissheit, sie mit Schnelligkeit und Kraft wieder festhebeln zu können. Rote Flecken und Schmierblut von irgendwo klebten am Körper. Kleider vermanschten sich in der Nässe, ausgezogene am Boden und jene, die noch an ihnen hafteten. Insgeheim war er überzeugt, dass Frauen «nein» sagen, wenn sie «ja» meinen, um den Mann ins Feuer zu stacheln.
Er liess sie vorübergehend los.
Inina entfernte sich am Boden, ...
...
...
Die landläufige Meinung sagt, wer eifersüchtig ist, der liebt wirklich. Dachte Adriano, als er Ininas Aus-Schrei, er treibe es mit einer anderen, in Gedanken nochmals hörte. Er etikettierte das Erlebte schal als eine Steigerung im Liebesleben, als wären sie ein fortgeschrittenes Paar ohne Tabus.
Inina glaubte an nichts mehr. Die Ehrlichkeit des Ausdruckes hatte sie überrascht, die grösste Kerbe geschlagen. Fragen aufgeworfen, die unendlich plagten.
Adriano schämte sich im Verborgenen für das, was er gewesen war. Gewalt machte ihn ohnmächtig. ...
3. Ende Abend Restaurant vor erster Liebesnacht (S. 55)
... Jene Dämme waren gebrochen, ohne die es kein Zurück gibt. Die Fluten des Vertrauens flossen zueinander. Auch das Eis war gebrochen. Nicht das Eis eigentlich, denn wo hätte Eis sein sollen? Hitze brach auf: Flammen on the Rocks. Einmal berührten sich beinah ihre Nasen, während die Hintern sich dienlich weit von den Sitzen hoben.
Es war, als verweile ein Punkt zwischen den Nasenspitzen.
Nochmals kam der Kellner.
Zu retten gab es nichts mehr.
Die Geräuschkulisse spärlich verbliebener Gäste verklang ungehört im Umraum der beiden. Von den Desserts führten Löffelchen zueinander in weiche Lippenpforten. So weit war man schon mit der gegenseitigen Fütterung. Vom Champagner-Früchte-Kompott schleuderte Inina versehentlich einen vollen Löffel Sahne auf den Boden.
Ihr Lächeln war mauerlos schön.
Sie sehnte sich nach ihm und wie er sein würde in ihr.
Adriano bezahlte, und ihr war es recht.
Sie erhoben sich vom Tisch.
Vor dem Restaurant tasteten Hände zu des Andern Schultern, Finger streichelten zärtlich Lippen und Wangen. Geliebt und verstanden verschwanden sie in die Nacht. Da und dort eine Laterne. Unter einem Baum hörten die Küsse nie mehr auf. Das Rauschen der Wellen drang zu ihren Ohren. Ein beleuchteter Dampfer, der letzte des Abends, glitt unbemerkt über den See. Die Enten schliefen.
...
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Manuskript / Roman: © Copyright 2025
Trauer: Sibylle ist leider bei einem Unfall gestorben.
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Hintergrundbild (mixed Media, Acryl / Farbstifte / Tinte): Vismaya Geissler
Digitalisierung des Bildes: Sabine Rock
Umsetzung: Ornella Gröbli
Idee und Kreation: Francesco Sidler
In einem verwahrlosten Haus findet der neue Besitzer Videos, Dokumente und Erinnerungsgegenstände der früheren Bewohner, eines Liebespaars. Die Funde beflügeln ihn, deren Lebensgeschichte aufzuschreiben. Die beiden erleben Höhen und Hässliches, Zusammenhalt und Trennung, und er muss zur Kenntnis nehmen, wie sie gestorben sind. Was ihn zusätzlich fasziniert: Das Paar sucht in alten und uralten Texten nach dem Wesen von Frau und Mann, der Rolle der Geschlechter auf unsere Kultur und die heutige, globalisierte Welt. Wie weiter, nach tausenden Jahren Sex, Begierde und Kampf? Was machen mit den Monster, die im Menschen auftauchen können und es auch tun?